Predigt zum Trauergottedienst für Prof. Dr. Martin Petzoldt am 24. März 2015
Liebe Renate, liebe Kinder, Enkelkinder und Familie unseres Verstorbenen, liebe Trauergemeinde,
das war Martin Petzoldt in den letzten Wochen seiner schweren Erkrankung – den auferweckten Jüngling von Nain vor Augen und die Psalmen Israels sowie Gesangbuchverse auf den Lippen. Um jeden Atemzug ringend, im Schatten des Todes – und doch immer noch mitten im Leben und Loben. Zurückgeworfen auf die Enge des Krankenlagers, wissend um die kurze, begrenzte Zeit, die ihm noch blieb, – und doch mit einem Blick in unendliche Weiten, einem Blick über die Enge der Krankenstube und die Kürze der irdischen Zeit hinaus in Gottes Reich und seine Ewigkeit.
Das war Martin Petzoldt, ein Mensch wie du und ich, ein Wanderer auf dem Weg vom Leben in den Tod – und doch einer, der wie die Psalmbeter Israels darauf vertraute, dass Gottes Wege aus dem Tod ins Leben führen; einer, der mit dem Apostel Paulus bekannte: »Ich bin aber gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.«
I
Die Lieder und die Texte für diesen Gottesdienst hat er noch selbst ausgesucht. Und daher sind sie seine letzte Predigt an uns: Der Jüngling von Nain – es gibt sie, die Hoffnung auf den Weg vom Tod ins Leben! Und der 103. Psalm – das gebetete, gesungene und musizierte Gotteslob. Das ist der genuine Ort, an dem diese Hoffnung, die stärker ist als der Tod, in der Steppe säkularer Gottvergessenheit immer neu erklingt. So und nicht anders wollen wir es hören und uns ins Herz schreiben lassen, das Psalmwort als Martin Pezoldts letztes Wort an uns:
»Lobe den Herrn meine Seele
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«
Das Ohr des eiligen Lesers hört da zuerst zwei Imperative: Lobe den Herrn und vergiss nicht! Ja, die Imperative, auch das war Martin Petzoldt – wird vielleicht manch einer denken. Wenn es da-rauf ankam, konnte er deutlich sagen, was zu tun ist. Ich könnte mir vorstellen, dass euch, den Kindern, die Imperative des Vaters nicht immer nur Wonne waren. Und ich weiß, dass wir als Kollegen unter den strengen Imperativen des Ersten Universitätspredigers hin und wieder stöhnten, wenn es darum ging, die Universitätsgottes-dienste unverdrossen an jedem Sonn- und Feiertag einschließlich des Johannistages abzusichern. Und nun also noch einmal und zum letzten Mal die beiden Imperative des Psalms, des Psalmbeters Martin Petzoldt an uns: Lobe den Herrn und vergiss nicht!
Wer darf so etwas fordern, das Gotteslob und die Gotteserinnerung in gottvergessener Zeit? Nur einer darf das, einer, für den das Gotteslob und die Gotteserinnerung zum kategorischen Imperativ seiner eigenen Glaubens- und Lebenspraxis wurde. Nur einer darf das: der dankbare Mensch! Und Martin Petzoldt war das, ein dankbarer Mensch!
Am eindrücklichsten wurde mir seine Dankbarkeit anlässlich der Altargrundsteinlegung für die neue Universitätskirche am Ende des vergangenen Jahres. Da stimmte er den im mühsam ausgehandelten Kompromiss über den Ablauf der Feier nicht vorgesehenen Choral »Nun danket alle Gott« einfach an. Das hat manch einer nicht verstanden, war manchem unvorstellbar und hat einige irritiert. Ihm aber war es in dieser Stunde ein tiefes inneres Bedürfnis, ein nicht zu unterdrückender innerer Imperativ: Gott dafür zu danken, dass es diese neue Universitätskirche und Aula geben wird. Dank dafür, dass an dem Ort, an dem er im Mai 1968 als Student noch neun Tage vor der Sprengung der alten Universitätskirche seine Seminarpredigt hielt, dass es an diesem Ort in einer neuen Universitätskirche wieder Gottesdienste geben wird. Wie sollte man da nicht aus vollem Herzen singen »Nun danket alle Gott«?
Es gibt Augenblicke, da muss man das für manch einen Irritierende, Unvorstellbare einfach tun, damit das eigentlich Selbstverständliche, die Dankbarkeit gegenüber Gott und Mensch überhaupt erst wieder vorstellbar wird. Martin Petzoldt hat das getan. Der Ort seiner Imperative war nicht der Kasernenhof, sondern ein Herz voller Dankbarkeit, aus dem sich das selbstverständlich zu Tuende wie von selbst ergab. Lobe den Herrn meine Seele!
Dabei wurde ihm das Wissen bereits im Elternhaus in die Wiege gelegt, dass sich das Gotteslob eben nicht in religiöser Innerlichkeit erschöpft. Es will öffentlich werden und tönen! Es will gesungen und musiziert sein. Das hebräische Wort, das Martin Luther mit »Seele« übersetzte, hat die Grundbedeutung »Kehle«. Es bezeichnet die ganze vitale Lebendigkeit und Bedürftigkeit des Menschen, den Ort an dem sich Laute, Töne und Worte formen. Lobe den Herrn meine Kehle!
Das gesungene und musizierte Gotteslob wurde dem Knaben im Dresdner Kreuzchor zur zweiten Natur. Es begleitete ihn durch all die Jahre, auch die letzten Jahre der schweren Erkrankung. Es bestimmte sein Fühlen und Denken, ließ ihn zum theologischen Bachforscher werden. Manchmal, wenn man ihn anrief, hörte man im Hintergrund die Musik Bachs. Sie gab ihm den Lebensrhythmus vor. In seinen legendären Kantatenseminaren nahm er die Studierenden mit hinein in diese Welt des musizierten Gotteslobs. Es bildete das Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit ebenso wie seines Glaubenslebens. Und er machte kein Geheimnis daraus, dass für ihn alle Theologie, die nicht in die Doxologie mündet, in die Rühmung Gottes, die nicht Hinführung und Anleitung zum Gottesdienst ist, blutleer und gottvergessen bleibt.
II
Daher der zweite Imperativ: Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! Das Jahrhundert, in das Martin Petzoldt hineingeboren wurde, war voller Abgründe und Dunkelheiten. 1946 lag das Land in Trümmern. Zwei Drittel seines Lebens hatte er unter den Bedingungen einer Diktatur zu bestehen. Unverständnis, Anfeindungen und Häme prägten immer wieder das Miteinander und verschwanden auch nach 1989 nicht aus vielen Köpfen und manchen Leserbriefen der Leipziger Volkszeitung. Von alledem ließ er sich nicht irritieren. In den Auseinandersetzungen um den Neubau der Universitätskirche und Aula wich er den Konflikten nicht aus, setzte aber ganz auf die Überzeugungskraft der konstruktiven Tat. Als Erster Universitätsprediger, Inspirator und Mit-initiator der »Stiftung Universitätskirche St. Pauli« förderte er den Neubau mit ganzer Kraft. Noch in den letzten beiden Wochen seines Lebens freute er sich ungemein über den Einbau der Schwalbennestorgel, deren Zustandekommen ganz wesentlich auch seinen Bemühungen zu danken ist.
Alles das und vieles mehr tat er, weil er immer wieder erfahren hatte, dass gerade in den Verwirrungen des Lebens das Gotteslob seine geheimnisvolle und heilende Kraft entfaltet.
Wer die Psalmen Israels liest, der wird darin ihre Grundmelodie finden: Das Lob muss sich ständig aus der Klage, aus der Finsternis und der Tiefe emporarbeiten, aus den Todeszonen ins Leben dringen. Israel hat ja wie kein anderes Volk der Geschichte erfahren, was es bedeutet, in der Welt dem unersättlichen Rachen des Bösen ausgesetzt zu sein. Und trotzdem, ja gerade in seinen Nöten hat es Gott sein Leid geklagt und ihn gelobt. Denn dieses Volk war und ist ein Meister der Erinnerung: »Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!« Das Gute, von dem der Psalmbeter hier redet, das sind die Wohltaten Gottes, die Israel im und gegen alles Dunkel seiner Geschichte erfuhr, die Erfahrung der Freiheit und Lebendigkeit im Angesicht des Todes.
Solche Wohltaten Gottes sind auch Martin Petzoldt in seinem Leben reichlich widerfahren. Und er hat das nicht vergessen. Die Menschen, die ihn begleiteten, seine aufmerksamen, liebevollen Eltern, seine Frau und seine Kinder, die ihm in den schweren letzten Jahren seiner Erkrankung mit unendlicher Geduld und Liebe zur Seite standen, Freunde und Kollegen, von denen er sich verstanden und angenommen fühlte, und immer wieder – wie könnte es anders sein – die Musik. All diese Wohltaten wusste er zu rühmen. Eindrücklich war es mir, mit welcher Hochachtung er von manchen Ärzten und aufmerksamen Schwestern sprach, die ihm sein Leiden zu erleichtern suchten. »Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!« Im Gedächtnis des Guten wird Leben bewahrt.
III
Daher lasst uns darauf vertrauen, dass der Schöpfer allen Lebens mit seinen Wohltaten an unserem Verstorbenen noch lange nicht am Ende ist. In der Fortsetzung des von ihm gewählten Psalmverses heißt es:
»der dir alle deine Sünden vergibt
und heilet alle deine Gebrechen,
der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönt mit Treue und Barmherzigkeit.«
Wir können heute das Leben Martin Petzoldts getrost wieder in die Hand seines Schöpfers zurücklegen. Er allein kann und will vollenden, was in unseren menschlichen Augen schmerzvoll, dunkel, unvollendet und ein Fragment geblieben ist. Seine Zusage gilt ohne Wenn und Aber.
Und an wem unser Verstorbener gefehlt hat, wem er etwas schuldig blieb, der möge ihm vergeben, wie auch Gott ihm seine Schuld vergibt, seine Gebrechen heilt und sein Leben erlöst durch unseren Herrn Jesus Christus. Die letzten Worte, die er über Martin Petzoldt spricht, heißen Treue und Barmherzigkeit.
Wenn wir – die Imperative des Psalmbeters im Ohr – mit unserem Lob, unserer Erinnerung nicht bei uns selber bleiben, sondern ganz beim Schöpfer des Lebens, der Martin Petzoldt zu sich gerufen hat, dann bleiben wir auch ganz nah bei ihm. In der Nähe zu Gott, dem Lebendigen, sind wir unseren Verstorbenen nahe. Man hat diese Gestalt des christlichen Glaubens immer wieder als eigentümliche Todesmystik missverstanden. In Wirklichkeit ist es das ganze Gegenteil, eine intensive österliche Lebensmystik, ein unvergänglicher Zugang zur Quelle allen Lebens, das stärker ist als der Tod. Psalm 103, das war nicht nur der Lieblingspsalm Jesu, der den Jüngling von Nain aus dem Tod ins Leben rief, das will auch unser Trost- und Lebenspsalm werden.
»Lobe den Herrn meine Seele
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«
Diese Worte nehmen uns mit hinein in eine einzigartige Schule der Dankbarkeit. Lasst uns Gott danken für den Ehemann, den Vater und Groß-vater, den Bruder, den Freund und Kollegen, den Prediger und theologischen Lehrer Martin Petzoldt, den er uns geschenkt hat. Und deswegen lasst uns in das Rühmen Gottes einstimmen mit einem Lieblingslied unseres Verstorbenen, das an allen Geburtstagen in seiner Familie erklang:
»Ich singe dir mit Herz und Mund,
Herr meines Herzens Lust.
Ich sing und mach auf Erden kund,
was mir von dir bewusst.«
Gott, der Herr über Leben und Tod, tröste alle, die um unseren Verstorbenen trauern. Er lasse ihn das Licht, das Leben und die Wahrheit schauen, an die er geglaubt hat.
Amen.
(mit herzlichem Dank an Prof. em. Dr. Rüdiger Lux)