Der kleine Melchior und das Weihnachtskind

 

Der kleine Melchior und das Weihnachtskind

 

Zu Schneeberg in Sankt Wolfgangs Raum ragt rätselhaft und wunderbar als bildgewordner Kirchentraum der Prunkaltar vermacht aus Lukas Cranachs Tagen, ist bunt auf manchem Schild zu sehn wie sie den Heiland ans Kreuz geschlagen und wie er sieghaft tät auferstehn.

Auch das Abendmahl und das Jüngste Gericht schimmern in vierfach gebrochenem Licht und über dem Zähneklappen und Heulen der Gnadenlosen von jauchzenden Seelen umreiht, das Symbolum der Dreifaltigkeit, staunend getragen von sechs korinthischen Säulen und wieder darüber in gläubig gelinder Gloriole die Taube des Geistes und Flügelkinder, ganz oben aber im äußersten Spind der Zinne das Liebe Weihnachtskind. Jahrhunderte saß es wo’s strahlend sitzt. Einmal ist es herabgeflitzt.

Und wieder strich der fromme Knecht durchs Holz. In Christlegenden versponnen sann die alte Silberstadt. Der Weihnachtskronschatz glitzerfarben satt war schon in allen Händen. Da standen weiße Engel an den Wänden, die Bienenwachs zu Flammenkränzen hoben. Da standen räucherkerzchenduftumwoben Bergleute mit geputzten Grubenblenden. Drehtürme kreisten, zier und sonderbar, besetzt mit Hirschen, Rehen, Hirten, Schäfchen Paar um Paar. Da glomm im Winkel der Kometen­stern über der Geburt des Herrn. Wachstöcke blakten in bemaltem Bleche feierabends schob von Tor zu Tor mit Liedern und Laternen, sich der Knappenchor der Sankt Georgenzeche.

Über Stirnen und Herzen lag schon der Schein verzückter Christbaumkerzen. Die großen Leute schauten so milde, verschwärmt juchheite die Kindergilde. Und der sich am tiefsten ins Glück verlor, das war der kleine Melchior. War er doch berufen zu seligen Dingen: Er sollte dem Himmelskind Grüße bringen, sollte nach uraltem, sinnigen Brauch in Glorienglanz und Opferrauch die Weissagung allein vom hohen Chore singen.

So kam die heilge Mitternacht. So kam die Frühe. Die Wolfgangsglocken gebannen ein Halleluja frohlocken. Glänzende Augen kriegten die frostverkühlten Häuser. Zitternde Lichtlein wühlten empor zur Kirche. Dröhnend rollte vom Turm ein brünstiger Posaunensturm. Glückauf! Glückauf! Und Knabenstimmen jubelten Lob und Dank.

Der kleine Melchior aber lag fieberkrank. Ein Schneeball, zu einem Stein vereist, war ihm tückisch gegen die Schläfe gekreist. Nun eiferte irr sein kleiner Geist. Aus zerwühlten Kissen ward er gerissen hinaus in die Winterkühle hinauf zu Sankt Wolfgangs knarrendem Orgelgestühle, da stürmte er vor an das Schnörkelgeländer zwischen Geiger und Bläser und Notenständer. Da sah er die güldnen Emporen entlang und atmete tief und atmete selig bang und ward ein Klang.

Drei Taler, sagte das greise Legat, drei Taler zahlt ein löblicher Rat jedem Buben, der am Weihnachtstag die Weissagung lieblich singen mag. Drei Taler, die sollte die Mutter haben. Der Vater lag lang in der finsteren Zeche begraben. Drei Taler, da sollte die Mutter kaufen Kleider und Schuhe und einen ganzen Haufen Lambertsnüsse und Anisrollen und einen ellenlangen Rosinenstollen und für den Barthel eine Schlittenglocke und dem Minchen eine Nürnberger Docke und dem kleinen Stoffel einen Pflaumentoffel und einen – Hei, dein Schneeball trifft ja nicht! Paß auf, jetzt schieß ich! Mein Mettenlicht! Mütterchen, wo ist mein Mettenlicht? Ich muß nun fort! Die Zeit ist da! Der Herr Kantor macht schon ein sauer Gesicht. Herr Kantor, Herr Kantor, hier bin ich ja: Das Volk so im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht.

Zu Tag geworden war die Kirchennacht. Von tausend Flämmchen flimmerte der Raum. Die Bergbelegschaft stand in Wicks und Pracht vorm Flügelaltar unterm Tannenbaum. In edlen Stühlen saß der Magistrat und alles Volk in Jugendglück und Festtagsstaat. Die Kerzenschwaden schweiften feierlich und eine Weihrauchwolke strich vom Musikantenstand bis um das Altarhaus und nur das Liebe Weihnachtskind sah oben noch heraus. Die Mettenglocken waren schon verklungen, schon hatte die Gemeinde Lob gesungen, mit Tubatönen schwoll das Gloria: Noch immer war der kleine Melchior nicht da. Der Kantor sah voll Zuversicht zum Sängertürlein. Doch es knarrte nicht. Dem Greis begann das Herz zu klopfen. Das Gloria verstob, man hörte das Wachs von den Kerzen tropfen, der Raum lag stumm. Die Frauen drehten sich tuschelnd um.

Da stand auf einmal vorn am Chor ein blondes Kind, just wie der kleine Melchior und lächelte mild und sah den schreckverstörten Mann mit abgrundtiefen Augen an. Dann hob es sein Stimmchen zu hellem Akkord und jauchzte das alte Verheißungswort: Das Volk, so im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht, und denen, die da wohnen im finstern Lande, scheinet es helle!

Und eine unaussprechlich süße Wohllautwelle schmeichelte das Schiff wie Fließen aus kristallner Quelle, spielte um Kapitäl und Schaft der Säulen unirdisch und sonnenhaft brandet empor an den erstaunten Säulen, die ein scheues Echo raunten kräuselte um die Dreifaltigkeit des Altarbildwerks und das Engelgeleit. Und die Engel lachten tief innerlich. Und die wispernden Putten freuten sich. Und die Evangelisten und klugen Propheten buckelten in frohen Gebeten.

Nur das Weihnachtskind über dem Weihrauchmeer konnte nichts sagen, denn sein Platz war leer.

Und die Männer und Fraun in den fichtenen Bohlen der Bänke vergaßen das Atemholen, die Knappschaft unter den Christbaumlichtern strahlte mit Apostelgesichtern, und einem ehrsamen Rate verstohlener Art troffen die Tränen in den Bart. Und der Greis inmitten der verwunderten Kurrende faltete tief aufschluchzend die Hände. Das Kind sang heiter Satz für Satz und grüßt am Altar den leeren Platz.

Als sich dann auftat Tür und Tor, nickten die Alten, schwärmten beseligt die Jungen: So schön hat noch keiner gesungen wie unser kleiner Melchior!

Der aber hob am späten Mittag erst die Lider und schaute um sich wie aus Träumen weit.

Da kam ein Bote von der hohen Obrigkeit, zählte ihm sechs Taler vor und meldete bieder: Dieweil er allem Volk das Herz bewegt, hab‘ ihm Magistrat drei Taler zugelegt.

Und am Flügelaltar im äußersten Spind saß wieder wie sonst das Liebe Weihnachtskind und lächelte.

Kurt Arnold Findeisen

vertont von Rudolf Mauersberger (1889–1971)
Weihnachtskantate für Sopran-Solo, gemischten Chor und Klavier
komponiert 1943 (?)